Geregelte Außeralltäglichkeit
Deutungs- und Handlungsprobleme von Patienten mit Morbus Parkinson und ihren Partnern bei der Therapie durch Tiefe Hirnstimulation
Zusammenfassung
Die Tiefe Hirnstimulation in der Therapie der Parkinsonkrankheit kann einen ambivalenten Effekt haben. Bei vielen Patienten kommt es zu einer geradezu dramatischen Verbesserung der Motorik, aber gleichzeitig klagen sie über eine subjektive Verschlechterung ihres Zustandes. Oft wird der Wiedereintritt in den Alltag durch psychosoziale Schwierigkeiten erheblich erschwert. Dazu können auch fortwährende Streitigkeiten innerhalb der Partnerschaft oder gar Trennungen und Suizide gehören. Noch immer werden derartige Fälle in der klinischen Literatur lediglich in Form von Einzelbeobachtungen beschrieben und nicht systematisch auf ihre Ursachen hin untersucht. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass Kommunikationsprobleme in Partnerschaft und Familie nicht mit den in der Neurologie derzeit vorherrschenden biologischen Theorien allein erklärt werden können. Eine Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften wie der klinischen Soziologie kann zu einem angemesseneren Verständnis der Probleme und zu einer besseren Betreuung der Parkinsonpatienten und ihrer Angehörigen führen.
Mit einer an Pragmatik und Sprechakttheorie geschulten Methode sowie einem kasuistischen, nicht-standardisierten Studiendesign leistet diese Arbeit einen Beitrag zur Aufklärung der nach Tiefer Hirnstimulation peri- und postoperativ auftretenden psychosozialen Probleme. In diesem Feld ist in besonderer Weise eine integrative Wissenschaft gefordert, die »Kultur und »Natur« nicht dichotom trennt, sondern sowohl die symbolische Dimension menschlichen Handelns als auch die funktionell-neuroanatomischen und pathophysiologischen Prozesse in ihrer Modellbildung – jenseits von neurowissenschaftlichem Lokalisationismus und nicht minder reduktionistischen psychosozialen Erklärungen – synthetisiert. Das Verhältnis von Körper und Geist ist hier im Lichte einer hochaktuellen therapeutischen Problematik der modernen Medizin thematisch.
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- 1–8 Titelei/Inhaltsverzeichnis 1–8
- 9–22 1 Einleitung 9–22
- Soziologische Forschung und Modellbildung im Feld der Neurologie
- Der Aufbau der Arbeit
- Erkenntnisinteressen und Probleme der Multidisziplinarität
- Die Stellung des Patientennarrativs in der Medizin
- 23–32 2 Die Parkinson-Krankheit und mögliche Therapieformen – eine neurologische Bestimmung 23–32
- Morbus Parkinson – die pathophysiologische Ebene
- Morbus Parkinson – die klinische Ebene
- Die psychosozialen Implikationen der Tiefen Hirnstimulation im Überblick
- A distressed mind in a repaired body – die Studie Schüpbachs
- 33–60 3 Die Entwicklung eines fallrekonstruktiven Forschungsdesigns 33–60
- Kritik an der standardisierten Lebensqualitätsforschung
- Die Datenbasis
- Die Entscheidung für ein datengetriebenes Bottom- up-Verfahren
- Verfahren der Dateninterpretation
- 61–66 4 Die methodische Durchführung der Studie 61–66
- Studiendesign und Datenerhebung
- Die Befragungssituation
- Prä-OP-Interview
- Follow-ups
- Transkriptionen
- Sequenzanalysen und Kontrastierungen
- Die Darstellung der Forschungsergebnisse
- 67–92 5 Wissensquellen im Auswertungsprozess und Heuristiken 67–92
- Neurologische Literatur und Schriften zur (neuro-)chirurgischen Situation
- Bewältigung, Krise und Trajekt – der Umgang mit psychosozialen Belastungen aus Perspektive der Psychologie und Soziologie
- Die partnerschaftliche Dyade als elementare Form des sozialen Lebens
- Das professionelle Arbeitsbündnis in der Medizin
- 93–156 6 Die psychosozialen Herausforderungen der Tiefen Hirnstimulation in ihren Stationen 93–156
- Die Entscheidung für die Operation und die Antizipation des Eingriffes
- Der Eingriff
- Der Aufwachraum und die erste postoperative Erfahrung
- Postoperativer Kontrollverlust
- Die Feineinstellung
- Die Integration des Leibartefaktes
- Der Übergang in die Langzeitbetreuung
- Die Deaktivierung des Impulsgebers
- 157–196 7 Erste Kasuistik 157–196
- Geburt und Milieu
- Die landwirtschaftliche Alltagspraxis der Ahnen
- Die Parkinson-Krankheit als Gegenstand der Perspektivenübernahme
- Die Biographie
- Der Ausbruch der Krankheit
- Das Interesse an der Tiefen Hirnstimulation
- Die gemeinsame Entscheidung für den Eingriff
- Die Antizipation der Operation und die Bewältigung der Angst
- Die Operation
- Die Rehabilitation
- Die Rückkehr in den Alltag
- Das Überschreiten bisheriger Grenzen und die Suche nach einem neuen Leben
- Anhaltende Arbeitsprobleme und die partnerschaftliche Dissoziation
- Schlussfolgerungen
- 197–228 8 Zweite Kasuistik 197–228
- Auswahl- und Kontrastierungskriterien
- Familiengeschichte, Milieu und Biographie: Drei Strukturmerkmale
- Die Biographie
- Kontaktaufnahme und erstes Interview
- Der Sturz als biographische Zäsur
- Die Bewältigungsstrategie: Die Parkinson-Erkrankung als Beruf
- Die Motivation und Entscheidung für die Tiefe Hirnstimulation
- Die Reaktion des Mannes und der Familie
- Der Eingriff
- Die drei Leben
- Der Kontrast zwischen latenter Fallstruktur und dem Deutungsmuster der Patientin
- Die Rehabilitationsphase
- Ein neuer Sturz – der Rückschlag
- Das dritte Interview – ein Jahr nach der OP
- Schlussfolgerungen
- 229–248 9 Dritte Kasuistik 229–248
- Die Auswahl des Falles
- Der erste Kontakt mit Frau Planinec
- Das bestimmende Merkmal der Selbstlosigkeit
- Biographische Eckdaten
- Die Betreuungssituation
- Die Operation
- Die psychosozialen Probleme in der Bewältigung des Eingriffes
- Die Parkinson- Patientin als »caregiver«
- Der Verlust des Objektes der karitativen Liebe und die Verstärkung der Symptomatik
- Schlussfolgerungen
- 249–286 10 Ergebnisse der Studie und Diskussion 249–286
- Soziologische Fallrekonstruktion im Feld der Neurologie
- Fallgeneralisierungen der drei extensiven Kasuistiken
- Die Bedeutung der Arbeit und des Arbeitsbündnisses bei der Therapie durch die Tiefe Hirnstimulation
- »Awakenings« revisited
- Resümee und Implikationen für die klinische Praxis
- 287–304 Literatur 287–304
- Neurologische, neurochirurgische und (neuro-)psychiatrische Literatur
- 305–308 Anhang 305–308
- Legende zum Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT)/Basistranskript (nach Selting et al. 1998)
- Überblick über die Transkripte (PDF-Datei)
- Tabellen: UPDRS III-Werte und medikamentöse Reduktion
- 309–312 Danksagung 309–312