§ 217 StGB im Lichte des strafrechtlichen Rechtsgutskonzeptes
Legitimität und Auslegung der Norm
Zusammenfassung
§ 217 StGB reiht sich in andere kriminalpolitische Projekte des Gesetzgebers ein, die sich dem Einwand des fehlenden Rechtsgutsbezugs ausgesetzt sehen.
Die Untersuchung zeigt auf, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des § 217 StGB den Zweck des Strafrechts als „ultima-ratio“ des Rechtsgüterschutzes verfehlt hat. Auch wenn er mit der Norm den Schutz von Leben und Autonomie bezweckt hat, ist ihm die Umsetzung des Schutzes dieser Rechtsgüter nicht gelungen. Die Vorschrift dient vielmehr dem Zweck der Verhinderung einer Suizidkultur. Nach der systemkritischen Rechtsgutslehre kann ein solcher „moralischer“ Zweck jedoch kein strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut darstellen.
Da eine Aufhebung der Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht wenig wahrscheinlich erscheint, schließt sich der Rechtsgutsdiskussion eine praxisorientierte Auslegung der Norm unter dem Gesichtspunkt des überindividuellen Zwecks, der Verhinderung einer Suizidkultur, an.
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- 1–18 Titelei/Inhaltsverzeichnis 1–18
- 19–23 Einleitung 19–23
- 24–62 Kapitel 1: Begrifflichkeiten, rechtliche Ausgangslage und Gesetzgebungsgeschichte 24–62
- I. Terminologie und Begriffsbestimmung
- 1) Euthanasie: Bedeutung im Laufe der letzten Jahrhunderte
- a) Euthanasie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus
- aa) Charles Darwin und der Sozialdarwinismus
- bb) Eugenik und Rassenhygiene
- cc) Karl Binding und Alfred Hoche
- dd) Nationalsozialismus
- b) Ergebnis
- 2) Suizid
- 3) Sterbehilfe
- II. Rechtslage zu Suizid und Sterbehilfe bis zum Inkrafttreten des § 217 StGB
- 1) Strafrechtliche Bewertung des Suizids
- a) Grundsätzliche Straffreiheit des Suizids
- b) Teilnahme am Suizid
- aa) Straffreiheit der Teilnahme am Suizid
- bb) Abgrenzung von strafloser Suizidteilnahme und strafbarer Fremdtötung
- cc) Ärztlich assistierter Suizid
- c) Tötung durch Unterlassen – Tatherrschaftswechsel
- 2) Strafrechtliche Bewertung der Sterbehilfe
- a) Aktive Sterbehilfe
- b) Indirekte Sterbehilfe
- c) Behandlungsabbruch
- d) Ergebnis
- III. Entstehungsgeschichte
- 1) Regelungsansätze bis zur 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages
- a) Alternativentwürfe
- b) Bundesratsdrucksache 230/06
- c) Bundesratsdrucksache 436/08
- d) Bundesratsdrucksache 149/10
- e) Bundestagsdrucksache 17/11126
- 2) Regelungsansätze in der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages
- a) Bundestagsdrucksache 18/5374
- b) Bundestagsdrucksache 18/5375
- c) Bundestagsdrucksache 18/5376
- d) Bundestagsdrucksache 18/6546
- 3) Ergebnis
- 63–87 Kapitel 2: Anforderungen an den Erlass von Strafvorschriften durch die Rechtsgutslehre 63–87
- I. Notwendigkeit eines Rechtsguts – Was ist die Aufgabe des modernen Strafrechts?
- 1) Normgeltung
- 2) Schutz der positiven sozialethischen Aktwerte
- 3) Rechtsgüterschutz als Aufgabe des modernen Strafrechts
- 4) Zwischenergebnis
- II. Was kann ein zu schützendes Rechtsgut sein?
- 1) Funktion von Rechtsgütern
- a) Systemimmanente Funktion
- b) Systemkritische Funktion
- aa) Kritik am systemkritischen Rechtsgutsbegriff
- (1) Definitionsversuche
- (2) Definitorische Kritik
- (3) Tauglichkeit der Rechtsgutslehre trotz definitorischer Schwierigkeiten
- (4) Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsgutslehre in der Inzest-Entscheidung
- (5) Lösungsvorschlag: Offene Definition eines Rechtsgutes
- bb) Rechtliche Folgen eines fehlenden Rechtsguts
- (1) Kriminalpolitische Illegitimität
- (2) Verfassungswidrigkeit
- (a) Abzulehnende Auffassung: Keine Bedeutung der Rechtsgutslehre in einem demokratischen Verfassungsstaat nach Appel und Amelung
- (b) Kritische Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gegenüber verfassungsrechtlichen Auswirkungen der Rechtsgutslehre
- (c) Verfassungsrechtliche Folgen der Rechtsgutslehre durch Einordnung der Lehre in das Übermaßverbot möglich
- 2) Ergebnis
- 88–135 Kapitel 3: Maßstab für die Auslegung des neu erlassenen § 217 StGB 88–135
- I. Regelungsbedürfnis laut Gesetzesbegründung
- II. Geschäftsmäßigkeit als strafbegründendes Merkmal
- III. Strafgrund als Maßstab für die Auslegung
- 1) Individualbelange: Leben und Autonomie
- a) Verhältnis der Begriffe „Rechtsgut“ und „Unrecht“
- b) Leben und Autonomie
- c) Umsetzung des individuellen Strafgrundes durch § 217 StGB
- aa) Systemwidrige Verwendung des Merkmals der Geschäftsmäßigkeit
- bb) Verletzung der Rechtsgüter Leben und Autonomie
- (1) Keine Rechtsgutsverletzung durch das Hinzutreten des Merkmals „Geschäftsmäßigkeit“
- (2) Generelle Unfreiverantwortlichkeit von Suiziden?
- (3) Staatliche Schutzpflicht des Gesetzgebers
- cc) Gefährdung der Rechtsgüter Leben und Autonomie
- (1) Autonomiegefährdung bei geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe
- (2) Autonomiegefährdung bei Suizidbeihilfe im Einzelfall
- (a) „Laiensuizid“
- (b) Eigeninteressen im sozialen Nahraum als Autonomiebeeinträchtigung
- d) Zwischenergebnis
- 2) Allgemeinbelange
- a) Mittelbarer Lebensschutz für andere Mitglieder der Rechtsgemeinschaft
- b) Verhinderung einer Suizidkultur – Gefahr eines Dammbruchs
- aa) Empirisch gestütztes Dammbruchargument
- bb) Zulassung weiterer Verhaltensweisen, die aktuell noch strafrechtlich sanktioniert werden
- cc) Veränderung der ökonomischen Bedeutung der Suizidbeihilfe
- dd) Moral als Rechtsgut im Sinne des systemkritischen Rechtsgutsbegriffs
- (1) Keine Notwendigkeit des Schutzes von Moral- und Wertvorstellungen
- (2) Keine Verfolgung eines „Entrüstungsprinzips“
- (3) Beachtung des Grundsatzes der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates notwendig
- (4) Anerkennung „neuer“ Rechtsgüter nur ohne Widerspruch zur übrigen Rechtsordnung möglich
- (5) Zwischenergebnis
- 3) § 217 StGB als Norm ohne strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut – kriminalpolitische und verfassungsrechtliche Folgen
- IV. Ergebnis
- 136–195 Kapitel 4: Auslegung anhand des Allgemeinbelangs „Verhinderung einer Suizidkultur“ 136–195
- I. Probleme mit der Ausgestaltung des § 217 StGB in Form eines abstrakten Gefährdungsdelikts
- 1) Wertungswiderspruch zu § 30 StGB
- 2) Systembruch aufgrund der Einordnung des § 217 StGB in den Abschnitt „Straftaten gegen das Leben“
- a) Systembruch durch Normierung eines Verletzungsdelikts, trotz fehlender Rechtsgutsverletzung
- b) Systembruch in Bezug auf § 216 StGB
- c) Einordnung des § 217 StGB in den Abschnitt der Delikte gegen die öffentliche Ordnung
- 3) Zwischenergebnis
- II. Tatbestandsvarianten: Gewähren, Verschaffen, Vermitteln
- 1) Gelegenheit zur Selbsttötung
- a) Keine restriktive Auslegung des Merkmals Gelegenheit nur im Hinblick auf präferierte Suizidmodalitäten
- b) Notwendigkeit einer „konkreten“ Gelegenheit
- 2) Gewähren und Verschaffen
- a) Keine Notwendigkeit eines „Unmittelbarkeitszusammenhangs“ zwischen Förderungshandlung und Suizid
- b) Keine Begrenzung auf „verführerische“ Angebote
- c) Werbeverbot als Ausdruck des überindividuellen Schutzkonzepts?
- d) Im Ergebnis: keine weitere Restriktion der Merkmale Gewähren und Verschaffen
- 3) Vermitteln
- III. Geschäftsmäßigkeit
- 1) Geschäftsmäßigkeit im Lichte des kollektiven Schutzgutes
- 2) Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG?
- a) Unbestimmtheit aufgrund von Abgrenzungsschwierigkeiten zur indirekten Sterbehilfe
- b) Unbestimmtheit hinsichtlich der Strafbarkeit von Ärzten
- aa) Wortlautauslegung
- bb) Genetische Auslegung – Heranziehung der Gesetzesbegründung
- cc) Teleologische Auslegung
- (1) Suizidbeihilfe als Hauptdienstleistung
- (2) Suizidbeihilfe als ultima ratio
- dd) Zwischenergebnis
- IV. Anforderungen an den subjektiven Tatbestand
- 1) Bezugspunkt der Absicht
- 2) „Alltägliche“ Handlungen als neutrale Beihilfehandlungen?
- V. Ausschluss nach § 217 Abs. 2 StGB
- 1) Strafbarkeit des Suizidenten als Teilnehmer
- a) Straffreistellung nach den Grundsätzen der notwendigen Teilnahme
- aa) Anwendbarkeit und Voraussetzungen notwendiger Teilnahme
- (1) Begründung des Bundesverfassungsgerichts zur Straffreistellung des Suizidenten
- (2) Notwendigkeit der Teilnahme des Suizidenten zur Verwirklichung des § 217 StGB?
- (3) Keine Straffreistellung des Suizidenten nach der Theorie der straflosen Mindestmitwirkung
- bb) Zwischenergebnis
- b) Straffreistellung durch Analogie
- aa) Analoge Anwendung des § 217 Abs. 2 StGB
- bb) Zwischenergebnis
- 2) Ungleichbehandlung außenstehender Dritter bei singulärer Beihilfe zu § 217 StGB
- VI. Möglichkeit einer rechtfertigenden Einwilligung
- VII. Strafrahmen
- VIII. Sterbetourismus
- IX. Ergebnis der Auslegung
- 196–208 Kapitel 5: Rechtspolitische Kritik 196–208
- I. Rückschritt im strafrechtlichen Regelungsbereich von Suizid und Sterbehilfe
- II. Schutz der Selbstbestimmung zu Lasten der Selbstbestimmung?
- III. Kapitulation des deutschen Rechts
- IV. Gesellschaftlicher Wandel
- V. Erhebliche Belastung des Arzt-Patienten-Verhältnisses
- VI. Ergebnis
- 209–230 Kapitel 6: Alternative Regelungsmöglichkeiten 209–230
- I. Alternative Regelungsmöglichkeiten zur Verhinderung einer Suizidkultur als Ordnungswidrigkeit
- II. Alternative strafrechtliche Regelung – Verfahrensrechtliche Absicherung der Autonomie
- 1) Verfahrensrechtliche Regelungsvorschläge im Einzelnen
- a) Gesetz über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung
- b) Verfahrensrechtliche Ausnahme zu § 217 StGB
- c) Ärztlich assistierter Suizid unter strengen Voraussetzungen
- 2) Allgemeine Kritik an verfahrensrechtlichen Regelungen
- 3) Vereinbarkeit der Normierung des ärztlich assistierten Suizides mit der Auffassung der Ärzteschaft
- III. Alternative strafrechtliche Regelung – Motivationslage des Suizidhelfers als Ausgangspunkt
- IV. Ergebnis
- 231–234 Zusammenfassung der Ergebnisse 231–234
- 235–256 Literaturverzeichnis 235–256